Studentenalltag

Die Realschulchroniken (3/3)

Realschulchroniken
Geschrieben von Jann Wattjes

Teil I und II der Realschulchroniken verpasst? Hier gibt es TEIL 1 und hier TEIL 2 🙂

#SchweineimWeltraum, Ist Inklusion sinnvoll?

„Nein“,

sage ich bestimmend, als es mich im Geschichtsunterricht fragt, ob alle Prinzen entweder Beef mit Bushido beschäftige oder bei Schalke 04 spielen. Es, das ist Maik, den ich allerdings aus ethischen Gründen nur Entchen nenne. Ich hatte hier eine wirklich gute Zeit, brachte den Kindern bei, wie man rumänische Bettler beim Hütchenspiel abzieht, machte Gandalf den Grauen binnen drei Wochen vergessen und senkte die allgemeine Hungerssterblichkeit im SOS Kinderdorf Burgalthaus um 25%.

Und all das sollte Entchen in meiner letzten Praktikumswoche nun vollkommen redundieren. Sie mögen sich bei dem Wort Inklusion womöglich bloß einen überbezahlten Pädagogen vorstellen, der sich sträubt, weil er nun zusätzlich noch auf einen ein bisschen garybuseybehinderten Acht geben muss. Und ich schwöre, ich hätte gerne gar dreißig Gary Buseys betreut, doch dieser Junge war eben genau das nicht, sondern die volle Drönung Chromosome.

Er war adamsandlerbehindert

Jeder Satz fordert seine demolierte Hirnregion heraus zu einer inhaltslosen Inhaltsfrage oder einem flapsigen Kommentar, ergänzt von ausnahmslos seinem eigenen, gellenden Lachen. Wende ich der Klasse den Rücken zu, um auf dem versifften Modell 1992 der Fisher Price Tafel zu schreiben, tönt laut die sinnestumpfende Stimme Helene Fischers* aus seinem iPhone (Hat sich jemals jemand gefragt, warum Behinderte immer Produkte von Apple nutzen?).

Aber das alles ist ja nur halb so schlimm. Denn die nordrhein-westfälische Landesregierung stellt dem Mongolen einen zu Hartz 1½-Konditionen beschäftigten Sozialarbeiter. Welcher ganze sechs Schulstunden damit verbringen kann, am Fenster (die östliche und südliche, sowie erhebliche Teile der westlichen Wand unseres Klassenzimmers) zu rauchen. Sozialarbeiter im Klassenraum (vgl. Den heutigen Hashtag), die wahrscheinlich großartigste Leistung der modernen Sozial- und Bildungspolitik.

Denn jetzt darf ich mich nicht nur zusätzlich mit Entchen, der sich gerade laut in sein Smartphone brüllend eine Dönerpizza in dieses symbolische „Brot für die Welt“-Camp bestellt, rumschlagen, sondern muss nebenbei auch aufpassen, dass meine Schüler nicht die übriggebliebenen Filter vom Fußboden oder den Jutebeutel dieser faul(ig)en Zusatzgestalt verzehren. „Der Junge braucht halt seine Freiheiten, okaaay?“, entgegnet er mir auf jede Arbeitsanfrage kommunistisch von der Fensterbank (eine Lehmanhäufung, die zur Abwehr des großen Ameisenangriffs 2003 – auch mithilfe von Knochen der Kriegsopfer – errichtet wurde).

Der im Zuge seiner Tätigkeit nun auch verkrüppelte Junge mit der Kuhglocke weist uns auf den Ablauf einer weiteren Schulstunde, geprägt von futterneidischen Blicken der Mitschüler und unlogisch argumentierten Darlegungen, „was Liebe mit uns macht“*, hin. Konsterniert nehme ich meine Hofaufsicht wahr. Aber nicht mal wie unbekümmert die Kinder mit rostigen Nägeln spielen und auf Igeln reiten, kann mich heute aufheitern. Inklusion ist schon echt behindert.

Was folgt, kann man wohl nur von Sam Mendes in einem Film dargestellt werden. Aber das scheiterte leider knapp am Budget…

Aus der Ferne ist ein gemeinschaftliches „Iiiiiiih“ zu vernehmen, das die schuleigenen Geier aufschreckt. Ein kleiner Junge rennt mir entgegen und übergibt sich großzügig auf die erdebene Schaukel. „Was ist los?!“, konfrontiere ich ihn irritiert. Doch zwischen all dem, was er herausbringt, steckt kein Wort. Es ist als wäre mit einem Mal die Hölle über diesen gottlosen Ort hineinerbrochen. Kinderscharen laufen davon, weinen und schließen sich nach dem Erreichen reichlichen Abstandes in die Arme.

Die Gezüchte des Wiologie-Unterrichts können in alle Richtungen fliehen, da Wookies, Zentauren und Ents gemeinsam den Damm gebrochen haben. Das Feld um den Ort des Geschehens lichtet sich, während ich mich nähere. Dort stehen nun nur noch Entchen, lachend, sowie Chris-Kevin, knieend und weinend. Als ich mich nach der Situation erkundigen möchte, stolpere ich noch über den Torso, der vehement versucht sich die Augen auszuschaben – dann aber merkt, dass er keine Arme hat. Chris-Kevin schleppt sich gebrochen aus dem Geschehen, wo er kniete erkenne ich nun einen weißgetrockneten Haufen Hundestuhlgang. Mit einer Bissspur…

Nachdem alle Beteiligten die Situation „verdaut“ haben, bitte ich die beiden zu klärenden Einzelgesprächen. Unter Tränen zeigt mir Chris-Kevin anhand einer Quietscheente und Barbie-Puppe, was sich ereignete. „Maik“ habe ihm die astronomische Summe von 5€, was soviel Geld sei, dass sie es auf Papier druckten, geboten, wenn er vorhin besagtes Kreaturenexkrement verschlänge.

Ich sammle mich kurz, dann schicke ich Chris-Kevin in den Taschendiebstahlförderkurs und bitte Entchen herein. Er sieht mich reumütig an. „Hast du Chris-Kevin Geld versprochen für den Verzehr von altem Dackeldurchfall?“, frage ich zweifelnd. Entchens Augen richten sich zur Seite. Er nickt. Einem kurzen Moment peinlicher Stille… folgt unserer beider lautes Gelächter. „Der Typ wollte ernsthaft die ganze Köterkacke für ’nen Fünfer schlucken?!“, stammele ich fasziniert.

„La! Ich hab est gesagt, ‚Dei Euo fü ein Bissen‘, aba dann hat ea noch vahandelt!“ Wir lachen herzlicher als Hennes Benders gesamtes Publikum in 16 Jahren Bühnenpräsenz zusammen. „Hach. Arme Leute sind doch wirklich der Humor der Natur…“, folgere ich, mir die Lachtränen aus den Augen wischend. „Deswegne wollt ich auch unbedingt hia hä! Dein Video üba Amut wa das Witzigste, was ich übahaupt in mein Leben gesehen hab!“

Plötzlich beginnen meine Synapsen Twister zu spielen

Es muss lange her sein, dass ich mal etwas derartiges empfand, und doch erkannte ich direkt, worum es sich handelte: Sympathie. Trotz seiner Behinderung hatte sich der Junge nachvollziehbare Werte und einen gesunden Humor angeeignet. Es ist nicht einfach ein Mongo, mit dem ich nun über Suppenküchen und Bahnhofsmissionen scherze, es ist ein Mensch. Mit Behinderung.

Und so zeigte Entchen mir noch viele witzige Sachen, die man mit armen Leuten machen konnte. Späße, wie einem frierenden Veteran 50€ für seinen Hund zu bieten oder die GEZ-Gebühren einer in einem Waschmaschinenkarton lebenden Seniorin einzutreiben (sieh’s mal NEO!), welche mir verborgen geblieben wären, hätte mir die Inklusion nicht dieses kleine Wunderkind aus der Mongolei importiert.

Inklusion ist Menschenrecht. Jede Form von Diskriminierung von Menschen mit Behinderung (und sei es nur Revolverheldismus) ist nach UN-Konvention eine Menschenrechtsverletzung. Wir können viel von diesen Menschen lernen – das weiß ich jetzt. Ich werde nie vergessen wie Entchen und ich es schafften, Chris-Kevin mit nur zwei weiteren Euro davon zu überzeugen, den Rest der Pedigreeverarbeitung doch noch zu verspeisen. Momente, die weniger aufgeschlossene Menschen wohl nie erleben werden…

Schaut nicht weg – seid tolerant,

Euer Xavier Naidoo

Über den Autor/die Autorin

Jann Wattjes

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