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Chroniken der Hauptschule – lest hier die hässlichen Wahrheiten 1/2

Schüler in der Hauptschule der schlafend mit dem Kopf auf der Schulbank liegt mit Büchern als Kopfkissen
Geschrieben von Jann Wattjes

Jann Wattjes und die Soziopathenfabrik

Weißer Rauch steigt auf, die Entscheidung ist gefallen. Und die Rede ist nicht davon, dass irgendein rechter Argentinier jetzt der neue Vertuscher von Kindesmissbrauchsfällen ist. Nein, gemeint ist die Raucherecke (eigentlich füllt sie drei Ecken des Raumes) des Lehrerzimmers, wo endlich ausgeknobelt wurde, wer den dämlichen Praktikanten (meine Wenigkeit) mit sich rumschleppen muss. Herr Reintsch, seines Zeichens sichtbarer Alkoholiker und Soziallegasteniker, unterrichtet eine 8. Klasse der Hauptschule in Religion.

Wir gehen einen unsauberen Korridor entlang (man sollte meinen, dass ein Ort, der von zukünftigen Hausmeistern nur so wimmelt, auch so aussehen kann, als wäre dort zumindest einer angestellt) und betreten einen winzigen, schlecht beleuchteten Raum, dessen Besetzung erst in der 3. Reihe beginnt. Jene Meute legt nun Smartphones und Butterflymesser beiseite und mustert mich hinterfragend. „Er is hässlich, er soll nich in unsre Klasse!“, ruft ein Kleinwüchsiger mit Raucherhusten.

H wie Hauptschule oder Hässlich

Bei dem Wort hässlich mache ich eine erstaunliche Entdeckung. Meine Fresse, sind das widerliche Gestalten. So viele Pickel hatten wir doch früher nicht. Oder? Und die Mädchen haben auch noch jeden einzelnen davon so auffällig übermalt, dass sie nicht hier sitzen würden, wüssten sie wie viele chemische Reaktionen gerade auf ihrer Haut stattfinden. „Der guckt hier nur zu. Setz dich mal nach da hinten.“ Reintsch deutet auf den Platz neben dem fetten Jungen. Ich wette der riecht gut. Von der gesamten Muppetshow misstrauisch beobachtet, lege ich mich natürlich nicht volle Suppe aufs Maul und ertrage unter sporadischem Gelächter die gesamte Stunde mit Nasenbluten. Warum sich der Rest der Anwesenden auf eine andere Version einigte, ist nicht überliefert.

Nach berechtigten Eingangsfragen wie „Unsere Bibeln sind ja gar nicht mehr aktuell, jetzt wo Deutschland nicht mehr Papst ist, oder?“ und „Wann kommen wir endlich zu der Stelle mit Hitler?“, beginnt meine erste Unterrichtsstunde nicht als Schüler, sondern Voyeur.

!Phone 4

Der fette Junge heißt Leopold und zögert nicht lange, mir sein Mobiltelefon und schlecht gephotoshopte Bilder mit ihm und (offensichtlich) Prominenten zu präsentieren. „Das [ist] das iPhone 4“, nuschelt er. „Aber Ashkan sagt, das is aus China, nur weil das i falschrum ist.“ Ashkans Urteil in allen Ehren, an diesem Gerät war sehr viel mehr falsch als das Ausrufezeichen vor dem Wort Phone. Das hatte mit einem iPhone in etwa soviel zu tun wie ein Trabant mit einem Mercedes. Herr Reintsch entreißt ihm vor einer begründeten Stellungnahme zur Echtheit seines Besitzgutes das Wort: „Leo, wer war letzte Woche unser Thema?“ „Black Op!“, sagt er freudestrahlend.

He-Man + Black Op = Hiob!

„Nicht ganz. Hiob. Nicht Estefanias Eselsbrücke vergessen: He-Man und Black Op = Hiob.“ Mein Ist-das-euer-verfickter-Ernst-wo-zur-Hölle-sollen-diese-Typen-eigentlich-mal-landen-die-können-doch-nicht-alle-in-der-Schnitzelstube-arbeiten-Blick (wer ihn sieht, weiß Bescheid) wird ignoriert. „Und was ist Hiob passiert, Malte [ich kann mir nicht helfen, aus irgendeinem Grund, war dieser Junge mir besonders unsympathisch]?“ „Gott hat gewettet, dass Hiob immer noch auf seine Atzenpartys kommt, wenn er seine Kinder killt und seine Kühe umschubst.“ „Im Himmel gibts keine Atzenpartys, nur Gangbangpartys!“, grummelt der Oompa-Loompa aus der letzten Reihe. Die Klasse lacht als wäre es die letzte Gelegenheit dazu. Sowas fanden wir doch früher nicht lustig. Oder? Ich bin in einer Krise. Ich passe weder in die Gruppe der depressiven Unterrichtenden noch in die, der zu oft gegen die Wand geklatschten Redneck-Kiddies. „Und was lernen wir daraus, Selcuk?“, fragt der Alleinunterhalter von vorne, von der Antwort schon vorab enttäuscht. „Glücksschepiel kann süschtig machen.“ Wie schön, dass jeder sich die Bibel individuell auslegen kann.

Immer, wenn Reintsch sich umdreht, fliegen Papierkugeln auf mich. Ein weiterer Schüler betritt erst jetzt den Klassenraum: „Sorry, war noch kacken.“ Auch hier schlägt der Hobbit zu: „Solange?! Da saß dir aber einer quer!“ Standing Ovations. Kackwürste können gar nicht quer sitzen, sie erhalten ihre längliche Form erst durch den Ausscheidungsprozess selbst. Was für mich Grundwissen ist, ist für diese Spongos theoretische Physik. Meine intellektuelle Distanz wird allen mit jedem Moment bewusster. Wie erreiche ich diese Kinder?

„Was isn Analgramm?“

Ich schaue in meine Praktikumsunterlagen und bemerke, dass ich mir den vollen Namen des Lehrers aufschrieb. Ich erinnere mich an meinen grenzdebilen Nachhilfeschüler. Dieses clevere, kreative Mastermind. Auch er war nur ein Hauptschüler in Verkleidung. Völlig klar: ich brauche meine Anagramm Magie. Dirk Reintsch. Und nein, ich weiß immer noch nicht wie ich das mache: „Hey, hey Leopold.“ In Bruchteilen von Minuten rotiert der Kampfkoloss um seine eigene Achse: „Was los?“ „Wusstest du, dass Dirk Reintsch ein Anagramm für ‚Stricherkind‘ ist?“ „Nee.“ „Cool, ne?“ „Was isn Analgramm?“ „Ein Wort oder Phrase, das man aus den Buchstaben eines anderen Wortes formen kann.“ „Hab ich vor ner Woche auch! Da hab ich in meiner Buchstabensuppe Döner geschrieben, aber mit „A“ am Ende.“

Im selben Moment, in dem mir auch das letzte bisschen Motivation kapituliert, merke ich, dass die Stunde rum und „Stricherkind“ über alle Berge ist. Ich möchte mich unauffällig aus dem Raum stehlen, bis eine schrecklich Kreatur (halb Akne, halb Schweinebärmann) sich tanzend auf den Tisch stellt und einen Track auf seinem – keine Ahnung ob echten, aber mit ziemlicher Sicherheit echteren – iPhone abspielt. Eine Frauenstimme skandiert auf spanisch „mit den Terroristen“. Er ist der einzige der tanzt. Vielleicht geht es ihm nicht gut, vielleicht sollte ich Hilfe holen. Doch nichtsahnend bricht mit dem Wort „Harlem-Shake“ (ja, ok, in dieser Situation wäre es einmal gut gewesen beschissene Internettrends zu kennen, touché) die Anarchie über uns herein. Selcuk entzweit sein Pausenbrot und klatscht es ins Waschbecken, während das Heinzelmännchen wie ein Fußball in den Flur gekickt wird. Einer wandelnden Monobraue entgleist bei der Prozedur Lakritz in seinen Anus zu schieben das Gesicht und ich bin mir ziemlich sicher, dass in der vierten Reihe gerade jemand mit Dildos verprügelt wird. Dieses abscheuliche Bild wird sich auf ewig in meine Netzhaut einbrennen und… das war nur mein erster Tag hier.

Ich weißle, ich weißle.

To be continued…

Die Chroniken der Hauptschule und der Verkauf von Kuchen 2/2

Über den Autor/die Autorin

Jann Wattjes

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