Wo der Wahnsinn wohnt – Insider aus der Psychiatrie

Geschrieben von Wichtelwald

Wenn ich heute jemandem erzähle, dass ich fast ein Jahr in stationärer Behandlung in einer Psychiatrie für Kinder und Jugendliche war, und darüber hinaus noch unzählige ambulante Therapiestunden gehabt habe, sind die Reaktionen meist verhalten. Man bleibt freundlich, interessiert, aber auch distanziert. Schlechte Erfahrungen habe ich nur wenige gemacht. Die meisten Vorurteile gegenüber der Klapse scheinen gelockert. Es wird natürlich höflich gefragt: Welche Gründe hatte das denn so? Geht es dir heute denn besser?

„Ja natürlich“ ist dann die zu gebende Antwort und ein erleichtertes Lächeln findet sich im Gegenüber. Und wenn dieser dann Vertrauen fasst, dann kommen weitere, vorsichtige Fragen (man möchte ja nicht respektlos sein), aber wie ist das denn dann so in einer Psychiatrie?

Ja, wie ist das eigentlich in einer Psychiatrie?

An einem Ort, an dem so viel Schmerz, Leid, Trauer, Hoffnung und Fortschritt zusammenkommen? An dem die unterschiedlichsten Geschichten und Leidenswege zusammenfinden und gemeinsam Wunderbares vollbringen?

Es ist unspektakulärer, als ihr denkt und dennoch schwierig in Worte zu fassen. Ähnlich wie im Krankenhaus erfolgt die Unterbringung auf verschiedenen Stationen. Oft erfolgt dies gesammelt nach Krankheitsbildern oder auch bunt durchmischt nach Alter und Geschlecht. Meistens kommen um die 10 Kinder- und Jugendliche verschiedenen Alters auf einer Station zusammen. Gewohnt wird in Einzel-, Zweier- oder Dreierzimmern, die mit Krankenhaus wenig zu tun haben. Bunte Bilder und persönliche Gegenstände zieren die Wände und Regale. In den wenigsten Zimmern ist es so ordentlich, wie es eigentlich sein sollte. Ein gemeinsames Wohnzimmer, eine Küche und verschiedene Gemeinschaftsräume gehören neben zwei Bädern und den Zimmern zur Station.

Die Vormittage sind meist gut durchstrukturiert mit verschiedenen Therapieangeboten und einzelnen Schulstunden. Da gibt es die klassische Gesprächstherapie, Ergotherapie, Kunsttherapie, Psychomotorik, Theatertherapie, Gruppentherapie, Reittherapie – jeder Patient hat seine eigenen Vorlieben.  Die Nachmittage werden gemeinsam auf der Station oder manchmal bei Unternehmungen verbracht. Einige Patienten haben schon Ausgang und dürfen in die nächstgelegene Stadt fahren oder spazieren gehen. Wochenende ist Besuchszeit, endlich Freunde und gegebenfalls Eltern wiedersehen. Einige dürfen das Wochenende auch schon zu Hause verbringen.

Klingt nach einem ganz entspannten Tagesablauf, oder? Aber wie ist das jetzt wenn da zehn verschiedene Krankheitsbilder von Essstörungen, Depressionen, Angststörungen, Aggressionen, um nur mal die Bekanntesten zu nennen, auf einem doch engen Raum zusammen kommen? Im Durschnitt mehrere Monate miteinander verbringen?

Es ist der Wahnsinn.

Manchmal habe ich mich gefragt, wieso es überhaupt funktioniert, wenn die Magersüchtige dem Adipösen gegenüber sitzt, die Aggressive dem Ängstlichen und die Depressive dem hibbeligen ADHS-Jüngsten. Ein Aufeinanderprallen von Welten, von verschiedener sozialer Herkunft, von verschiedenen Alters und Geschlechts, von unterschiedlichsten Geschichten. Und alle verbindet sie ein Grund, warum sie gemeinsam dort Monate verbringen. Weil sie in ihrem Leben mehr Schmerz und Leid erfahren haben, als man sich vorstellen mag. Weil sie alle einfach mal eine Pause brauchen von all dem, was täglich um sie herum tobt.

Und ja, wenn so viel Chaos auf einem Punkt zusammen kommt, dann passieren unangenehme Dinge. Dann kann es sein, dass Türen knallen und Patienten schreien. Es kann es auch mal sein, dass Gegenstände fliegen und Türen und Fenster besser verschlossen werden. Dann muss manchmal mitten in der Nacht der Arzt kommen, der nur noch Medikamente verabreichen kann, damit sich jemand wieder beruhigt. Manchmal braucht es viele Menschen, die einen sehr wütenden Menschen festhalten, bis dieser nach einer Spritze mehr oder weniger zusammensackt und endlich aufhört zu schreien.

Das sind vielleicht die dunklen, aber auch schwer vermeidbaren Situationen, die in zugespitzter Form immer noch als Vorstellung in einigen Köpfen existieren. Das sind Erfahrungen, die man manchmal lieber streichen möchte aus dem Gedächtnis und die trotzdem dazugehören. Sie erinnern daran, dass ein Psychiatrieaufenthalt eben kein so entspanntes Vergnügen ist wie mancher Tagesablauf auf den ersten Blick vermuten lässt. Vor allem zeigen sie, dass alle Patientinnen und Patienten gemeinsam und jeden Tag an sich und ihren Problemen arbeiten. Die Menschen lernen hier, wie sie besser mit sich und ihren Mitmenschen umgehen können und mit dem, was sie belastet, zu leben.

Der Außenstehende mag sich fragen, was denn da passiert, beim gemeinsamen Kartenspielen im Stations-Wohnzimmer oder beim Gespräch der beiden magersüchtigen Mädels in der Küche. Er sieht nicht, was in den Köpfen vorgeht und was für immense Fortschritte manch einer macht. Es ist enorm, wenn man sich endlich fallen lassen kann, wenn man endlich los lassen kann und realisiert: Ich bin hier in Sicherheit.

Egal was passiert, es ist jemand da, der mich auffängt und der mich versteht. Ich kann und darf mich austauschen, über all die komischen, unangenehmen Gedanken, die ich habe. Es ist möglich jemandem zu erzählen von dem, was mich belastet und beschäftigt. Ich lerne meine anderen Mitbewohner und Mitbewohnerinnen hier zu verstehen und zu schätzen. Wir können gemeinsam zusammen sitzen und Dekoration für die Station basteln. Außerdem dürfen wir uns zurückziehen und über den ein oder anderen Therapeuten lästern. Auch schaffen wir es zu zeigen, dass es uns heute nicht so gut geht und wissen es sind Betreuer da, die uns helfen.

Das gemeinsame Miteinander auf Station lässt Grenzen verschwinden und verbindet, wo man keine Gemeinsamkeiten vermutet hätte. Manchmal entstehen Freundschaften, die länger halten, zumindest aber Bekanntschaften, an die man sich gerne zurück erinnert.

Mit einiger Zeit Abstand fragt man sich oft, wie es wohl den anderen heute geht und denkt mit einem lächelnden und einem weinenden Auge zurück an eine schwierige und trotzdem schöne Zeit, die man miteinander verbracht hat und in der man so viel gelitten, gehofft und gelernt hat. Man weiß jetzt: Alltag in der Psychiatrie – manchmal ist das wirklich Wahnsinn. Vor allem aber hat man gelernt, dass der größte Wahnsinn dieser Welt meist vor den Türen der Psychiatrie stattfindet und, dass man einen Weg finden kann, damit umzugehen.

Über den Autor/die Autorin

Wichtelwald

Ein Wald von Wichteln- herrliche Vorstellung oder?

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