Ich habe bis jetzt in meinem Leben zwei Menschen verloren. Sie waren beide jung, zu jung sagt die Gesellschaft und sie fehlen mir. Jeden Tag. Aber niemand ist zu jung zum Sterben, meinte Hanna einmal und sie muss es wissen, weil wir ihren zwanzigsten Geburtstag ohne sie feierten.
Zack und weg
Marie war 23 als sie im Meer in Griechenland beim Schwimmen einfach nicht mehr auftauchte. Blutgerinnsel im Gehirn. Ging ganz schnell. Zack und weg. Das heißt nicht ganz, weil ein bisschen war sie dann schon noch im Krankenhaus. Aber die Ärzte machten uns keine Hoffnung. Wenn überhaupt, sagten sie, dann würde Marie schwerst behindert wieder aufwachen. Marie war Sportlerin, studierte sogar Sport an der Uni und an diesem Tag damals habe ich gebetet, dass sie nicht mehr aufwachen würde. Ich wusste, dass mein Wunsch sie bei mir zu haben, sie nicht zu verlieren, ein selbstsüchtiger war. Und zumindest das Sterben eines anderen Menschen sollte sich doch nicht um mich drehen, oder?
Hanna war 19 Jahre, als man den Krebs entdeckte, der sich in ihr festgefressen hatte. Sie im Krankenhaus zu besuchen, war die Hölle. Ihr dabei zuzuschauen, wie ihr die langen Haare ausgehen, musste ich nicht, weil wir sie abrasierten, als die ersten Büschel Haare in ihrem Bett lagen. Hanna hat viel geweint am Anfang. Als sie damit aufhörte, wusste ich, dass auch Hanna aufhören würde. Ausgesprochen hat das aber keiner. Ich denke, weil es offensichtlich war. Der Tod liegt in so einem Raum sprichwörtlich in der Luft. Wenn man sich konzentriert, kann man ihn sogar riechen. Irgendwie eine Kombination aus Angst, frischen Laken und Desinfektionsmittel.
Was wissen wir schon…über das Sterben und den Tod, wenn wir noch nichts über das Leben wissen?
„Sterben werden wir alle.“, hat Hanna einmal zu mir gesagt. „Die anderen wissen es nur noch nicht, wissen nur noch nicht wann.“ Ob sie das als Vorteil sieht, dass sie es schon weiß, habe ich sie gefragt. Bestimmt hätte sie an dieser Stelle mit den Schultern gezuckt, aber ihr tat alles weh, also musste ich mir den Teil einfach dazu denken. „Weiß nicht.“, hat sie geantwortet. „Aber das ist auch so etwas, das wir gemeinsam haben. Wir wissen es nicht. Im Grunde wissen wir vielleicht gar nichts.“ Wir haben nicht viele philosophisch existentialistische Gespräche geführt, als Hanna so langsam im Krankenhaus und später im Hospiz vor sich hin starb, nicht so wie in Filmen. Aber an diesen Satz erinnere ich mich noch.
„Wir wissen es nur noch nicht.“
Von Marie habe ich mich nicht verabschiedet. Ich traf sie an der Bushaltestelle, kurz bevor sie in Urlaub flog und das Letzte, was ich zu ihr sagte, war: „Bis bald. Mach’s gut.“ Das war natürlich schon ein Abschied, aber eigentlich auch nicht. Keiner, der für immer gedacht war jedenfalls. Marie war da und dann plötzlich nicht mehr. Es hat lange gedauert, bis ich wirklich verstanden habe, dass ich sie nicht mehr an der Bushaltestelle treffen werde. Nicht mehr zwischen den Vorlesungen schnell auf einen Kaffee mit ihr gehen werde, mich beim Joggen mühsam hinter ihrer durchtrainierten Frohnatur her quäle.
Hanna habe ich sterben sehen. Ganz langsam. Ganz grauenvoll. Stück für Stück. Und ich habe verstanden, dass Sterben auf diese Art nichts für Anfänger ist. Sterben ist etwas für Mutige und solche, die es dadurch werden. Hanna lebte immer lieber in den Tag und in ihr Leben hinein. Nur sterben war anders. Sie starb nicht in den Tag hinein, oder aus dem Tag heraus, so wie Marie. Nein, Hanna wusste sehr genau, wann es vorbei sein würde. Und das ist dann vielleicht die Ironie des Lebens und des Sterbens, die sich da die Hand gibt. Wenn ich Hanna heute nahe sein will, dann vergesse ich meinen Terminkalender absichtlich daheim, oder setze mich einfach mal ohne konkreten Plan in einen Zug oder auf eine Parkbank.
Wer am Tod gewinnt
Ich würde gerne sagen, dass der Tod meiner Kindheitsfreundinnen tiefgreifende Veränderungen in meinem Leben herbeigeführt hätte. Dass ich jeden Tag aufstehe und dankbar bin, dass ich noch lebe. Oder dass ich mich über Kleinigkeiten nicht ärgere, weil das im Großen Ganzen betrachtet doch lächerlich ist und es im Leben auf ganz andere Dinge ankommt. Dass ich jeden Augenblick genieße und Menschen in meinem Leben immer so begegne, als wäre es das letzte Mal.
Die Wahrheit aber ist, dass es das alles nicht mit mir gemacht hat. Ich habe immer noch Zukunftsängste, verliere mich in kleinen, vermutlich unwichtigen, Streitereien und drehe mich meistens um mich selbst im Kreis. Mein Leben hat durch den Tod meiner Freundinnen nichts an Qualität oder Intensivität gewonnen. Am Tod gewinnt nämlich nur der Sterbende. Hoffe ich zumindest.
Die Wahrheit
Ich habe Bilder von ihnen, von Marie und Hanna, in meiner Wohnung stehen. Zuerst stand Marie auf meiner Kommode gegenüber von meinem Bett und es war Hanna die das schwarze Band am weißen Rahmen befestigt hat. Gut ein Jahr später habe ich dann ihr Bild neben das von Marie gestellt. Auch mit einem schwarzen Band. Diesmal habe ich es aber selbst angebracht. Und da stehen sie seitdem, lachend und ewig jung bleibend. Nicht alternd, aber langsam verblassend. Ein Prozess, der sich gar nicht aufhalten lässt.
Ich weiß nicht mehr wie Maries Stimme klang und habe den Geruch von Hannas langen Haaren nicht mehr in der Nase. Sie entziehen sich mir und meiner Erinnerung ganz langsam, so wie das Leben sie mir entzogen hat. Manchmal macht mich das panisch, das Vergessen. Ich will sie festhalten, wenn schon nicht sie selbst, dann zumindest ihre Erinnerungen. Aber die Wahrheit ist, dass nichts bleibt. Wir sind vergänglich. Egal wie sehr wir uns dagegen wehren.
Drei minus zwei Musketiere = Ich
Mir ist neulich erst aufgefallen, dass kaum jemand die Bilder meiner beiden toten Freundinnen jemals zur Sprache bringt. Sie stehen auf meiner Kommode, in meinem Zimmer, gut sichtbar und ausgestellt. Jeder sieht sie, aber niemand will sie sehen. Es ist wie mit dem Tod selbst und Marie und Hanna scheinen in ihm untergegangen zu sein. Wir werden alle sterben. Wir wissen das auch. Also der Umstand selbst ist uns bewusst. Aber wir tun lieber so, als ob wir’s nicht wissen. Weil das mit dem Sterben und dem Tod eben nur was für Mutige ist und weil es anstrengend ist, jeden Tag so zu leben, als wäre er dein letzter.
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