„Ich hab da kein gutes Gefühl.“ Das war das Erste, was mir an diesem ganz gewöhnlichen Morgen durch den Kopf ging. Da war das berühmte flaue Gefühl im Magen. Dieses Gefühl, das dich eigentlich unbedingt darauf hinweisen möchte, den Wecker zu ignorieren, die Decke bis unter die Nase zu ziehen, dich in deinem warmen, kuscheligen Bett umzudrehen und auf gar keinen Fall aufzustehen. Die Welt einfach sein zu lassen, aber sich da heute nicht weiter einzumischen. Im Nachhinein kann ich ganz klar sagen, ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen, denn was an diesem Morgen passieren sollte, würde mich noch lange beschäftigen. An besagtem Morgen ahnte ich zum Zeitpunkt meiner übersinnlichen Eingebung nicht, dass ich dem Tod heute von Angesicht zu Angesicht in die Augen blicken würde.
Der Tod, wahrhaftig kein lustiges Thema und dennoch irgendwie ein ständiger Begleiter. Wo Leben ist, da ist auch Tod. Dies ist für mache mehr, für manche weniger präsent. Für mich persönlich ein Thema, dass ich so gut es geht ausblende, aus meinem Alltag, aus meinen Gedanken fernhalte. Ein Thema, mit dem ich mich mit meinen 21 Jahren glücklicherweise noch nicht allzu häufig auseinandersetzen musste. Ein Thema, das für mich eine Mischung aus trockener Wissenschaft und emotionalem Verlust darstellt. Der Tod ist für mich ein Zustand, der mich vor ganz persönliche Glaubenskrisen stellt, denn ohne Glauben an etwas Überirdisches, etwas Göttliches, steht am Ende eines Lebens nichts. Eine leere Hülle, die nach und nach in ihre Einzelteile bis hin zu ihren Atomen zerfallen wird, bis das was man einst liebte, nur noch Staub ist. Wissenschaft und Medizin sind eben nicht dafür da, Seelenfrieden und einen Platz im Himmel zu verschaffen. Für mich sind es meine treusten Begleiter und vielleicht ist gerade die Tatsache, dass mich die Medizin an diesem Morgen im Stich ließ, ausschlaggebend dafür, dass mich dieses Ereignis so beschäftigt.
Situationsumschreibung: wo sind Ärzte, wenn man sie braucht?!
An besagtem Morgen, es war ein Montag, ging ich wie gewohnt zur routinemäßigen Blutabnahme zur Kontrolle meiner Immunwerte ins Ärztehaus bei uns im Ort. Das Ärztehaus ist ein zweistöckiges Gebäude, indem man von einer Apotheke im Erdgeschoss über Internisten, Gastroenterologen und Orthopäden im ersten Stock auch Zahnärzte und HNO-Ärzte im zweiten Stock findet. Nur um es der Vollständigkeit halber erwähnt zu haben. Zusätzlich sei erwähnt: Ich hasse Aufzüge und versuche so gut es geht eine Fahrt in diesen Höllenmaschinen zu vermeiden. An diesem Morgen wurde ich in meiner Überzeugung, dass in einem Aufzug nichts Gutes passieren kann, nur noch bestärkt.
Ich schlenderte also nichts ahnend durch das Erdgeschoss ins Treppenhaus mit integriertem Aufzug. Dort erblickte ich einen älteren Herrn mit einem Rollator, der auf mich einen sehr aufgebrachten und verwirrten Eindruck machte. Als er mich erblickte, konnte ich die Erleichterung in seinem Gesicht sehen, denn wie sich rausstellen sollte, hatte er in seiner Lage, schlecht zu Fuß zu sein, verzweifelt auf Hilfe gewartet. Er berichtete mir, im Aufzug läge eine bewusstlose Frau. Ich konnte förmlich spüren, wie mir das Adrenalin in den Körper schoss und ich in eine Art Überlebensmodus geriet. Das war der Moment, vor dem ich seit Absolvieren meiner Sanitäter-Ausbildung Angst hatte. Die nachfolgenden Erzählungen spielten sich in einem Zeitraum von zwei maximal drei Minuten ab. Es ging alles unfassbar schnell, fühlte sich aber an wie eine halbe Ewigkeit.
Schock, Adrenalin und Schnappatmung
Die Aufzugtür öffnete und schloss sich immer wieder, da der Fuß der bewusstlosen Frau in der Lichtschranke ein vollständiges Schließen verhinderte. Die Frau lag eingeknickt in der mir gegenüberliegenden linken hinteren Ecke des Aufzugs. Ich wollte den Aufzug betreten, doch der ältere Herr wollte mich davon abhalten. Er ließ mich erst gewähren, als ich ihm versicherte, Sanitäterin zu sein. Die etwa 70 Jahre alte Frau zeigte typische Anzeichen eines Krampfanfalls, der aber bereits am Abklingen war. Dies war mir zum Glück relativ schnell bewusst geworden und ich rief dem älteren Herrn zu, er möge sofort einen Rettungswagen rufen. Inzwischen war ein jüngerer Mann Teil des Geschehens. Diesen wies ich an, in die erste Etage zu laufen und schnellst möglich einen Arzt zu organisieren.
Unterdessen gab ich der Frau immer wieder leichte Backpfeifen in der Hoffnung, sie würde das Bewusstsein wiedererlangen. Zunächst machte es auch den Eindruck, denn auf meine Berührung reagierte sie mit einzelnen tiefen Atemzügen. Jedoch blieb meine Hoffnung unerfüllt, sie blieb bewusstlos. Also musste ich das Schema X abhandeln. Ich überprüfte den Radialis-Puls am Handgelenk…Nichts. Als nächstes versuchte ich es am Hals …auch hier Nichts.
Das war der Moment, in dem in mir Angst aufstieg. Ich wusste, was zu tun war. Ich hatte dieses Szenario tausendmal an Dummies geübt, musste es aber glücklicherweise noch nie an einem echten Menschen anwenden und vor allem nicht allein. Im Rettungsdienst arbeitet man in Teams und kann sich bei Unklarheiten absprechen. Ich war auf mich allein gestellt und hatte allein mit meiner Verwirrung zu kämpfen, denn die Ausbildung war schon vier Jahre her, ich war nicht einen einzigen Einsatz gefahren und somit praktisch völlig unerfahren. Mir blieben nur die gelernten theoretischen Inhalte, die mich in dieser Situation aber völlig im Stich ließen.
Entscheid dich und weiter
Die Frau zeigte eindeutig Schnappatmung, Herz-Lungen-Wiederbelebung wäre aber bei Herz – und Atemstillstand induziert gewesen. Ich war mir jedoch unsicher, ob Schnappatmung überhaupt noch irgendwie Luft in die Lunge transportiert. Ich war verunsichert und kämpfte mit mir selbst, denn ich hatte Angst etwas falsch zu machen und am Ende den Tod der armen Frau verschuldet zu haben. In mir wuchs der Gedanke, sie zunächst aus dem Aufzug raus bringen zu müssen. Die Rettungskräfte hätten hier drin nicht ausreichend Platz gehabt.
In dem Moment kniete sich eine weitere Frau auf den Boden zu mir und fragte mich, ob die alte Dame meine Oma sei. Sie war augenscheinlich Krankenschwester oder Arzthelferin. Ich berichtete ihr kurz und bündig, was passiert war und bemerkte, dass ich in einer Urinpfütze kniete. Wir beschlossen, sie in die Stabile-Seitenlage zu manövrieren und in Ruhe alle Vitalzeichen erneut zu überprüfen. All das geschah in Sekunden. Jetzt zeigte die Frau nicht mal mehr Schnappatmung, jetzt war der Fall klar. Sie musste raus aus diesem engen Höllenaufzug und musste reanimiert werden. Wir legten sie auf den Rücken und sie war nun blau angelaufen.
Dies war für mich der größte Schockmoment, denn sowas hatte ich noch nie gesehen. Dennoch war die Sache jetzt eindeutig. Ich fühlte die Rippen am Brustkorb, um die Stelle für die Herzmassage zu finden. Ich wusste genau, was jetzt kommen würde und brauchte ein paar Sekunden, um mich mental darauf vorzubereiten, auf dem Herzen dieser Frau rum zudrücken und ihr gegebenenfalls die Rippen zu brechen. Dies war vermutlich die größte Selbstüberwindung, die ich innerhalb von Sekundenbruchteilen treffen musste, kombiniert mit dem geistigen Aufrufen, was ich jetzt tun musste. 30-mal drücken, tief genug drücken, schnell genug drücken… Ha Ha Ha Ha staying alive, staying alive. Das Gesicht meines Ausbilders erschien vor meinem inneren Auge, mit einem Kaffee in der Hand, nickend, wohl wissend, dass ich das kann. Ich legte meine Hände auf den Brustkorb und wollte mit dem ersten Drücken beginnen, als ich plötzlich aus meinem trance-ähnlichen Zustand gerissen wurde.
Endlich eine Ärztin. Sie begann ohne weiteres Zögern mit der Reanimation. Es folgten ihr drei weitere Ärzte, die Krankenschwester beatmete solange Mund zu Mund, bis ich die Maske an den Beatmungsbeutel gesteckt hatte. Alles andere lief mehr oder weniger nach Protokoll. Nach einer Ewigkeit traf der Rettungsdienst ein. Dieser folgte unseren Versuchen, die Frau mittels Defibrillation wieder in einen Sinusrhythmus zu bekommen, doch scheiterte. Schlussendlich konnte leider nur noch der Tod der Frau festgestellt werden.
Schock, Adrenalin und dann?
Dies war der Moment, in dem der Adrenalinspiegel abzuflachen begann und mir furchtbar stechend bewusst wurde, was da eigentlich gerade passiert ist. Mein Blutdruck sank gefühlt gegen Null und ich wurde zittrig. Ich war wie auf Droge, denn ich nahm alles um mich herum gedämpft wahr. Gefühle, Emotionen, all diese Dinge, die ein funktionierender Mensch besitzt, hatte ich nicht mehr. Ich stand klar unter Schock. Der Adrenalinspiegel sank weiter und ich wurde plötzlich unfassbar müde und fing an zu weinen. Ich fühlte mich fremd und dreckig und vor allem schämte ich mich. Eine immense Unsicherheit kam hoch. Hatte ich zu lange gezögert? Wie hätte ich besser reagieren können? Habe ich was falsch gemacht? Könnte diese Frau noch leben?
Erst Stunden später, nach einer heißen Dusche, nach weiteren Runden des Tränen Vergießens, nach dem ich Bild für Bild, Sekunde für Sekunde durchgegangen war, mir überlegt hatte, was man hätte besser machen können, kam die Einsicht. Ich war in dieser Sekunde dort und habe anstatt nur rumzustehen mein Bestes gegeben. Eventuell war mein Bestes, das Krasseste, was ich in diesen Sekunden aus mir rausholen konnte, nicht ausreichend, aber ich bin kein Arzt. Ich hatte weder die Routine (falls man es so überhaupt nennen kann), noch die langjährige medizinische Ausbildung, um anders auf diese Situation reagieren zu können. Ich habe so reagiert, wie ich es in diesem Moment, voller Adrenalin, gestresst und verängstigt für richtig gehalten habe. Es gibt keinerlei Grund für irgendwelche Vorwürfe.
Leben, Tod und vor allem das Zwischendrin
Die Take-Home-Message dieses Erlebnisses und weshalb ich mich dazu entschieden habe, darüber zu schreiben: Egal ob medizinische Ausbildung oder Erste-Hilfe-Kurs, egal ob wiederholtes jahrelanges Üben an Puppen oder ein 8h-Crashkurs, solche Stresssituation verlangen jedem Äußerstes ab. Man muss sich an Gelerntes erinnern und Berührungsängste überwinden. Wenn es um das Leben eines echten Menschen geht, zählt jede Sekunde und Fehler könnten schlimme Folgen haben. Niemand weiß vorher, wie er reagieren wird, wenn er das erste Mal in solch eine Situation gerät. Niemand kann voraussagen, wie man handeln, denken und fühlen wird, wenn man in eine Situation hineinstolpert, in der es um Leben und Tod geht.
Aber im Grunde, und das ist der Punkt, geht es nicht um Leben und Tod, es geht um das Zwischendrin! Das Zwischendrin: den Rettungsdienst zu rufen, sich gegebenenfalls Hilfe von Passanten zu holen und zu versuchen, das anzuwenden, was jeder von uns in einem Erste-Hilfe-Kurs mindestens gelernt hat. Dieses Zwischendrin, darauf kommt es an.
Post scriptum:
Obig beschriebener Vorfall beschäftigt mich noch immer und es war keine einfache Entscheidung über dieses Ereignis zu schreiben. Jedoch entschied ich mich dazu, um zu verdeutlichen, dass wir uns in solchen Situationen alle angesprochen fühlen sollten.
Handeln ist immer besser als Nichts zu tun.
Ich hoffe inständig, dass dieser Artikel nicht als respektlos empfunden wird und möchte den Angehörigen mein tief empfundenes Beileid aussprechen.
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